Ein Jahr danach.
10.11.2016
Nun ist fast ein ganzes Jahr vergangen. Am 13. November jähren sich die Attentate von Paris.
Ein Jahr geprägt von Trauer, Wut und Unverständnis, von weiteren Anschlägen in Brüssel, Nizza und zu vielen anderen Orten dieser Welt.
Aber dieses Jahr war auch geprägt von der Erkenntnis, dass wir alle gemeinsam viel stärker sind als der Terror. Großveranstaltungen finden weiterhin statt und verlaufen weitestgehend friedlich, wir sitzen nach wie vor in Cafés, Restaurants und Fußballstadien, bummeln durch belebte Straßen und genießen jeden Moment unseres Lebens.
Seitdem war ich drei mal in Paris.
Das erste Mal nur drei Tage nach den Anschlägen – ein seltsames Gefühl. Dennoch lief schon damals das Leben weiter, Menschen hetzen durch die Métro, Autofahrer hupen wild durcheinander, Touristen flanieren durch die Gegend und die Pariser trinken ihren Kaffee auf den Terrassen der Cafés. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass die Stadt nicht mehr dieselbe ist, wie zuvor. Es herrschte eine seltsame Stille in der Stadt und überall gab es nur dieses eine Thema. Sobald irgendwo eine Sirene aufheult, zucken die Menschen zusammen.
Einige Monate später, im Mai dieses Jahres, kehrte ich wieder dorthin zurück und verbrachte einige Tage in meiner zweiten Heimat.
Bevor ich dorthin fuhr, hatte ich mir allerlei Gedanken gemacht, wie es wohl werden würde, wieder dort zu sein und ich muss auch gestehen dass mir ein kleines bisschen mulmig wurde, als wir in die Stadt hineinfuhren und so auffallend viel mehr Polizei und Militär vertreten war, als ich es kannte.
Ein Land im Ausnahmezustand.
Aber als ich dann in das übliche Pariser Leben eintauchte, kamen mir diese vermeintlichen Ängste plötzlich total absurd vor. Ich hatte keine Angst mehr. Ließ mich treiben wie immer und machte mir überhaupt keine Gedanken darüber, ob mir hier etwas passieren könnte.
Und falls doch? Dann war ich wenigstens glücklich und lebte mein Leben so wie ich es wollte, anstatt mich vom Terror einschränken zu lassen.
Ich ging meine Straße entlang, die rue de Charonne, in der es auch 18 Tote gegeben hatte.
Das Leben läuft weiter, die Leute lächeln und irgendwie ist alles wie früher. Obwohl gleichzeitig alles anders ist.
An der Place de la République ist die Statue der Freiheitskämpferin Marianne von oben bis unten zugekleistert mit Bildern, Bannern, Blumen und Kerzen. Unzählige Menschen haben sich hier versammelt, versammeln sich seitdem Tag für Tag. Trauern zusammen, lachen gemeinsam. Demonstrieren für Frieden und Gerechtigkeit.
Haben keine Angst. Paris lebt weiter.
Bei diesem Gedanken kann ich nicht mehr. Mir kommen die Tränen und ich will sie nicht zurückhalten. In meinem Kopf sehe ich die Szene, wie ein Mann sich kurz nach den Attentaten auf offener Straße an ein Klavier setzt und „Imagine“ von John Lennon spielt.
Und tatsächlich macht es hier den Anschein, als sei die Welt eins, vereint gegen den Terror und in der Hoffnung auf Frieden. Ich bin einfach gerührt von all den Bildern und Bannern auf diesem Platz und es tut gut zu sehen, dass die Menschen hier weiterleben.
Dass es Paris gut geht. Dass Paris weiterlebt. Denn Weiterleben und nach vorne blicken ist nach wie vor das einzig Richtige, das wir tun können.
Und nun war ich wieder da. An République versammeln sich immer noch viele Menschen. Es gibt ein Denkmal und die Statue wurde inzwischen gereinigt. Hier erinnert immer noch einiges an die Anschläge und das ist auch gut so.
Nur ein paar hundert Meter weiter auf dem Boulevard Voltaire befindet sich das Bataclan. Es wird in wenigen Tagen wieder eröffnen, mit einem Konzert von Sting. Denn auch hier geht es weiter, den Terroristen wird getrotzt.
„War das ein Grund, mich zu töten?“ – Heißt es auf einem Graffiti im 11. Arrondissement, unweit der verschiedenen Anschlagsorte.
Nicht weit vom Bataclan kaufe ich in einer kleinen Buchhandlung zwei Bücher: „Témoin“ handelt von der Zeugin, die damals den entscheidenden Hinweis auf den Aufenthaltsort einer der Attentäter in Saint Denis gegeben hat und deren Leben sich seitdem komplett verändert hat.
Das andere Buch, „Vous n’aurez pas ma haine“ (Meinen Hass bekommt ihr nicht) von Antoine Leiris, habe ich vorhin zu Ende gelesen. Der Autor hat im Bataclan seine Frau und Mama seines 17 Monate alten Sohnes verloren und kurz nach diesem furchtbaren Verlust einen sehr beeindruckenden Brief an die Terroristen auf Facebook veröffentlicht, der anschließend um die ganze Welt ging. In seinem Buch gewährt er sehr emotionale Einblicke in den Alltag mit seinem Sohn, denn auch für ihn geht das Leben trotz allem weiter.
Wieder ein paar hundert Meter weiter befand sich bis vor fast zwei Jahren die Redaktion von Charlie Hebdo. In der Umgebung rundherum erinnern verschiedene Graffities an die Künstler. Neben der Eingangstür hängt eine Gedenktafel und eine Rose liegt auf dem Bürgersteig.
„Ich habe keine Angst vor Vergeltung. Ich habe keine Kinder, keine Frau, kein Auto, keine Kredite. Es ist vielleicht ein bisschen hochtrabend, was ich jetzt sagen werde. Aber ich ziehe es vor, aufrecht zu sterben, als auf Knien zu leben“ – Dies sagte der frühere Chefredakteur von Charlie Hebdo, Stéphane Charbonnier, genannt Charb, schon 2012. Nun erinnert dieses Graffiti neben den ehemaligen Redaktionsräumen an seine Worte und es läuft mir eiskalt den Rücken runter, als ich sie lese. Er hat so recht!
Überall in der Stadt findet man Zeichen des Gedenkens und der Trauer, Erinnerungen an die schrecklichen Tage im Januar und November 2015.
Aber es finden sich auch Hoffnung, Liebe und Freude, und das ist noch viel wichtiger. Denn das alles sind Eigenschaften, die uns von den Terroristen abheben und die uns stärker machen als sie jemals sein werden.